Die Papaya von Senan

Meine Erzählung hat nun einen weiten Weg hinter sich. Und sie läuft und läuft immer noch.  Sie rollt, springt, fliegt – und lässt sich nun am Ufer des Nokoué-Sees nieder. In einem Dorf dort lebte das kleine Mädchen Senan mit Mutter, Vater und einem Bruder. Die Familie lebte vom Fischfang und auch die kleine Senan trug ihren Teil bei, indem sie der Mutter bei den Hausarbeiten half. Es war ein kleines aber mutiges Mädchen weshalb ihm die Eltern manchmal auch eine Aufgabe zuwiesen, die erforderte, dass man sich von der Hütte entfernte und allein zur Mündung des Sees ging.  Eines schönen Tages machte sich Senan wieder einmal auf den Weg zum Ufer, mit einem Korb voller Wäsche auf dem Kopf, um diese zu waschen. Auf dem Weg dorthin kam sie unter einem Papayabaum vorbei, an dem eine schöne Frucht hing. Diese war so reif, dass sie jeden Moment abfallen konnte. Das Mädchen kletterte auf den Baum, holte sich die Frucht und nahm sie mit.  „Sobald ich die Wäsche gewaschen habe, werde ich diese köstliche Papaya essen“, sagte sie.  Sie wollte die reife Frucht mit Genuss verspeisen. Aber dann dachte sie an Mutter, die daheim auf sie wartete, und beschloss, sie zu überraschen.  „Ich werde die Papaya aufbewahren und sie dann meiner Mutter schenken“ sagte sich das Mädchen, „die wird sich sicher freuen“.  So kam es, dass sich Senan, nach getaner Arbeit, auf den Heimweg machte. Daheim angekommen lief sie zu ihrer Mutter und umarmte sie. „Sieh was ich dir gebracht habe: eine schöne Papaya“, sagte das Mädchen zur Mutter.  Die Mutter dankte Senan von Herzen. Die Papaya war wirklich sehr schön. Die Frau hätte sie auch gleich gegessen, aber dann dachte sie an ihren Sohn Awanou, der früh morgens aufgebrochen war, um zum Fischen zu gehen. Deshalb beschloss sie die Frucht bei Seite zu legen und schenkte sie ihrem Sohn, als dieser von der Arbeit nach Hause kam.  „Danke, Mutter“, sagte Awanou und freute sich über das Geschenk. Er wollte auch gleich in die saftige Papaya beißen, aber dann viel ihm der Vater ein, der mit der Piroge zum Akadja gegangen war, um die Fischgehege zu überprüfen und zu reparieren. Eine Arbeit bei der einem die Feuchtigkeit und die sengende Sonne schwer zu schaffen machen.  „Ich werde warten, bis Vater zurückkommt, dann werde ich die Frucht ihm geben“, sagte sich Awanou. Der Vater kam erst spät abends, hundemüde, nach Hause. Awanou ging ihm entgegen und übergab ihm, nach dem Willkommensgruß, die Frucht, die er für ihn auf die Seite gelegt hatte. Der Mann setzte sich auf die Strohmatte und dankte von Herzen.  Er betrachtete die Papaya. Sie war schön, groß und reif. Und wie schmackhaft sie wohl sein würde! Aber er hielt sich zurück, weil er sogleich an sein Töchterchen denken musste.  Er rief Senan und sagte zu ihr: „Hier, meine kleine, ich will dir was schenken. Diese Papaya ist für dich“.  Das Mädchen lächelte und sagte nichts. Es teilte die Frucht in vier Teile, und alle zusammen, Mutter, Vater, Awanou und Senan, aßen die Papaya. In Gemeinschaft gegessen ist die Papaya tausendmal besser.  Auch meine Erzählung möchte dort stehen bleiben, sich auf der Strohmatte niederlassen, und an dem Fest teilnehmen. Aber es ist spät, sie muss gehen. Sie ist noch nicht müde vom laufen.  Wieder erhebt sie sich zum Flug in die Lüfte und verschwindet zwischen den Wolken.

 

(aus: P. Valente, Die Papaya von Senan. Märchen aus dem Benin, Athesia, Bozen 2007)