Friedenstropfen

Meine Geschichte fliegt, rollt und bleibt vor den Toren eines Dorfes stehen. Dort lebten ein Bruder und eine Schwester. Die beiden liebten sich innig und trennten sich niemals, aus keinem Grund. Der Bruder hiess Himmel, die Schwester Erde. Sie waren nicht Geringeres als die Kinder des Schöpfers aller Dinge. Die Geschwister hatten von klein auf miteinander gelebt, ohne jemals ernsthaft zu streiten. Sie hatten zusammen gegessen, zusammen gespielt, zusammen gearbeitet. Und die Tage, die Jahre, die Jahrhunderte waren vergangen, ohne dass irgend etwas die vollkommene Eintracht zwischen Himmel und Erde trübte.  Bis zum Tag, an dem der Hahn Dakara ganz einfach aus Neugierde wissen wollte, welches der beiden Kinder des Schöpfers das Ältere sei. Diese unbequeme Frage, die sich unbedacht zwischen Bruder und Schwester schlich, wurde Gegenstand einer hitzigen Diskussion. Der Himmel erklärte entschieden:  “Ich bin sicherlich nicht der Jüngerer!” und fügte hinzu “schliesslich kann ich ohne weiteres auch alleine leben”.  Auch die Erde bestand darauf, die ältere Schwester zu sein:  „ Ich brauche dich wirklich nicht“, liess sie den Bruder wissen.  Der Schöpfer aller Dinge seinerseits weigerte sich, am Streit teilzunehmen, den er für dumm hielt und war keineswegs bereit, seinen Kindern zu verraten, wer von den beiden der ältere war. Er beschränkte sich, zu behaupten:  “Ihr werdet nie einer ohne den anderen leben können”.  Doch der Streit dauerte Tage, Wochen und viele Monate, bis sich der Himmel und die Erde, da sie keine andere Lösung fanden, trennten. Ein sehr, sehr trauriger Tag.  Man muss nun wissen, dass zu den Untertanen des Himmel das Wasser zählte. Verärgert wie er war, befahl der Himmel dem Wasser, die Erde aus keinem Grund mehr zu besuchen. Obwohl schweren Herzens stieg das Wasser also nicht mehr auf die Erde herab und blieb oben, dem Himmel Gesellschaft leistend, der sich aber nun schrecklich einsam fühlte, auch wenn er es nicht offen zugab. Es war, als ob er ein Stückchen Herz verloren hätte. Als ob ihm die Luft zum Atmen fehlte.  Inzwischen begann auf der Erde alles auszudorren. Alles war dazu bestimmt, zu verwelken und bald zu sterben. Angesichts dieser Verwüstung erkannte die Erde, dass sie ohne den Himmel nicht sein konnte. Nach langem Überlegen beschloss sie, ihren Bruder zu besuchen, um sich mit ihm wieder zu versöhnen.  Dakara, der den Zank ohne zu wollen ausgelöst hatte, wurde als Vermittler gewählt. Der Hahn begab sich zunächst zu seinem Freund, dem Himmel. Dann rief er die Erde und begleitete sie zum Bruder. Die Erde gab sodann freimütig zu, dass sie den Himmel brauchte. Und der Himmel gestand, dass er sich schrecklich einsam gefühlt hatte. Um nun zu beweisen, dass er bereit war, sich mit der Schwester zu versöhnen, sandte er Tausende, Millionen, Milliarden von kleinen Wassertropfen auf die Erde. Die wir Regen nennen.  Die Tropfen brachten wieder Leben auf die Erde und sind auch heute noch das Zeichen des Friedens und der Versöhnung zwischen den Geschwistern, der Erde und dem Himmel, den unzertrennlichen Kindern des Schöpfers aller Dinge.  Meine Geschichte ist glücklich. Sie will wegeilen und allen die gute Nachricht bringen. Aber gerade heute regnet es in Strömen. Also bleibt sie friedlich unter diesem Mangobaum und bewundert schweigend das Schauspiel der fallenden Tropfen.

 

(in P. Valente, Racconti del vento, Ed. San Paolo, Mailand 2007 veröffentlichtes Märchen)